Dear Martin von Nic Stone
Belletristik,  Buchrezension,  Literatur

Nic Stone: Dear Martin

Justyce ist ein intelligenter Junge, der es aus seinem kriminellen Viertel heraus und auf eine der besten Privatschulen der Stadt geschafft hat. Ihm und seinen Mitschülern steht die Welt offen. Oder so denkt er zumindest. Bis er in Handschellen abgeführt wird, als er eigentlich nur einer Freundin helfen will. Justyce erkennt, dass die Welt ihn nie gleich wie seine weißen Mitschüler behandeln wird. Er beginnt, seine Sorgen und Ängste in Briefen zu verarbeiten, die er an Martin Luther King adressiert. Sein Ziel ist, mehr wie sein großes Vorbild zu werden. Jedoch muss Justyce erkennen, dass es alles andere als gut ankommt, Rassismus offen anzusprechen.

Dear Martin von Nic Stone

 

Selten hat mich ein Roman so wütend gemacht

In der Vergangenheit ist es schon mal vorgekommen, dass ich während des Lesens wütend wurde. Allerdings dann meistens, weil sich der Roman als unterirdisch schlecht entpuppte oder sich die Handlung in eine Richtung entwickelte, wo ich sie nicht haben wollte. Mit Dear Martin war das anders. Zum ersten Mal empfand ich eine rasende, hilflose Wut. Denn obwohl es sich hier um eine fiktive Geschichte handelt, bestand für mich während des Lesens kein Zweifel, dass diese Dinge in der Realität so passieren. Der Rassismus gegen Schwarze Menschen in den USA ist kein neues Thema. Aber er ist auch längst kein überholtes Thema. Nic Stone führt in ihrem Debütroman sehr eindrücklich und schonungslos vor Augen, was alles nach wie vor schiefläuft: Im Großen, wie auch im ganz Privaten. Der Roman zeigt nicht nur die Folgen von offenem Rassismus, sondern vor allem auch von implizitem Rassismus, der meist „überhaupt nicht so gemeint“ wird.

 

Rassismus auf mehreren Ebenen

Für Justyce ist seine Verhaftung wie ein Weckruf. Plötzlich hinterfragt er das Verhalten seines überwiegend weißen Umfelds. Warum stört sich zum Beispiel sonst keiner daran, dass die anderen es für gerechtfertigt halten, vor Justyce über Schwarze Menschen herzuziehen, weil sie ihn „nicht als Schwarzen sehen“? Manny ist Justyce bester Freund und der einzige andere Schwarze Junge in der Stufe. Aber nicht einmal er versteht, was Justyce Problem ist. Wenn sich ein Kumpel an Halloween eine Kutte des Ku-Klux-Klans überzieht, ist das zwar nicht cool, aber kein Grund, sich aufzuregen. Und wenn ein Weißer, der einen Schwarzen Jungen ermordet hat, freigesprochen wird, dann wird das schon seine Richtigkeit haben. Justyce hat früher diese und ähnliche Umstände, Aussagen und Ansichten als unbedeutend oder gar selbstverständlich hingenommen. Jetzt erkennt er die Problematik und weiß nicht, wie er damit umgehen soll.

Im Verlauf des Romans wird immer deutlicher, auf wie vielen verschiedenen Ebenen Rassismus stattfindet. Da sind einerseits unbedachten Aussagen, gewollte Blindheit gegenüber Missständen und letztendlich rohe Gewalt. Justyce ist ein merkwürdiger Hybrid und damit irgendwie zwischen den Stühlen. Er kommt aus einer schwarzen Familie, aus einem schwarzen Viertel, lebt jetzt jedoch unter privilegierten Weißen in einer Privatschule. Er gehört nirgends wirklich dazu. Von beiden Seiten sieht er sich mit Vorurteilen konfrontiert. So besteht beispielsweise kein Zweifel, dass seine Mutter nie eine weiße Freundin für Justyce akzeptieren würde.

 

Gleichberechtigung und Chancengleichheit

Die Kapitel, die ich am interessantesten fand, die mir aber auch das meiste Bauchweh verursacht haben, waren die Schulstunden in Social Evolution. Hier werden Rassismus und verwandte Themen offen angesprochen. Die Teenager diskutieren darüber, wo der Unterschied zwischen Gleichberechtigung und Chancengleichheit liegt. Mit der Abschaffung der Rassentrennung seien alle Probleme aus der Welt geschafft worden. Mit dieser Ansicht sind Justyce Mitschüler sicher nicht allein. Dass es einen Unterschied macht, ob man aus einer privilegierten weißen Vorstadtsiedlung oder einem schwarzen Problemviertel kommt, wollen die wenigsten akzeptieren. Dabei werden Fragen aufgeworfen, die auch außerhalb der Romanhandlung wichtig sind: Ist es fair, dass Schwarze Schüler eine besondere Förderung erhalten, um es auf eine Eliteuniversität zu schaffen? Muss sich Justyce ein Leben lang fragen (lassen), ob sein Erfolg rein sein eigener Verdienst ist, oder ob es darum ging, eine Quote zu erfüllen?

 

Besondere Sprache

Anfangs fiel es mir schwer, mich in die Sprache einzufinden, insbesondere bei Dialogszenen. Viele der Figuren sprechen in einem Slang, der mir nicht vertraut war. Wer ohnehin seine Probleme mit Englisch hat, sollte vielleicht lieber auf die deutsche Ausgabe zurückgreifen. Obwohl auch ich ab und zu an meine sprachlichen Grenzen stieß, war ich trotzdem froh, die englische Ausgabe vor mir zu haben. Der Slang trägt ungemein viel zur Atmosphäre und zur Charakterisierung der Figuren bei. Ich kann leider nicht sagen, wie das in der deutschen Ausgabe umgesetzt wurde.

Als gewöhnungsbedürftig empfand ich Dialogszenen mit mehreren Figuren. Hier verzichtet Stone auf Beschreibungen von Mimik, Gestik und Umgebung. Stattdessen greift sie auf die Redewiedergabe zurück, wie wir sie aus Dramentexten kennen: Name, Doppelpunkt, Aussage. Überraschender Weise hatte ich dennoch irgendwann bei den wiederkehrenden Figuren ein Gefühl dafür entwickelt, wie sie etwas sagen. Ab da störte mich die für Romane doch eher unkonventionelle Redewiedergabe nicht mehr. Im Gegenteil: Ich habe zu schätzen gelernt, wie diese Methode den Fokus auf das Gesagte allein lenkt. Ohne Beschreibungen der Szene, die stets einen Teil der Aufmerksamkeit einfordern, bekommen die Dialoge selbst plötzlich mehr Gewicht.

 

Eine unbequeme, aber wichtige Geschichte

Das Ausmaß, in dem Rassismus Justyce Leben in der erzählten Zeit von vielleicht ein oder zwei Jahren bestimmt, beschreibt dann wohl doch eher die Ausnahme. Allerdings ist es erschreckend und traurig, dass die Handlung dennoch nicht erzwungen oder übermäßig konstruiert wirkt. So schrecklich Justyce Erfahrungen sind, so realistisch und glaubhaft sind die leider auch. Tatsächlich fühlte sich Nic Stone durch wahre Ereignisse zu diesem Roman inspiriert. Die Message ist ebenso klar wie wichtig und ich hoffe, dass viele sie hören werden.

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