Spider von Andy Mulligan
Belletristik,  Buchrezension,  Literatur

Sollte Kinderliteratur Werte vermitteln? Rezension zu Spider von Andy Mulligan

Spider ist ein Hundewelpe. Er macht noch vieles falsch, aber bei seinem Herrchen, dem jungen Tom, ist er glücklich. Doch Tom hat allerhand Probleme in der Schule und mit der Trennung seinen Eltern. Da stört Spider doch nur, oder? In einer ereignisreichen Nacht reißt der kleine Hund aus und begibt sich auf eine abenteuerliche Reise, bei der er viel lernt. Vor allem über Freundschaft und Loyalität.

Spider von Andy Mulligan

Der beste Freund des Menschen

Geschichten, in denen sowohl Tier als auch Mensch Protagonisten sind, stellen stets eine Herausforderung hinsichtlich der Erzählperspektiven dar. Das Problem hat Mulligan intelligent gelöst. Es tritt stets eine Erzählinstanz auf, die in dritter Person über das Geschehen berichtet. Dabei fokussiert sie sich kapitelweise mal auf die Tier- und mal auf die Menschenwelt. So können die Tiere untereinander Dialoge führen und werden als (mehr oder weniger) komplexe Figuren mit Gefühlen, Motiven, Wünschen und Ängsten dargestellt. Doch auch die Menschen nehmen genug Raum ein, um nicht als blasse Hintergrundfiguren zu verschwinden. Indem Tom und Spider miteinander aber eben nicht so kommunizieren können, wie mit ihrem Umfeld, kommt es zu Missverständnissen.

 

Große Themen für junge Leser

Mit seinem bildschönen, sehr herbstlich anmutenden Cover schien mir Spider die perfekte Lektüre für diese Jahreszeit. Ich erwartete eine rührselige Geschichte über die Freundschaft zwischen Kind und Hund. Etwas fürs Herz eben, seichte Lektüre, denn es ist ja schließlich für Kinder geschrieben. Über den Großteil der Handlung hinweg war ich jedoch völlig irritiert von der Art und Weise, wie wichtige Themen angeschnitten werden und dann beinahe unkommentiert bleiben.

 

Mensch und Hund

Wie das bei einem Wurf so üblich ist, wird Spider zunächst zusammen mit seinen Geschwistern von der Mutter getrennt und bleibt dann alleine zurück, als die anderen Welpen einer nach dem anderen verkauft werden. Schließlich kauft ihn Toms Vater und Spider verlässt sein erstes Zuhause für immer. Zwar wird die Verwunderung des jungen Hundes über die Trennung von seiner Familie zum Ausdruck gebracht, wirklich zu beschäftigen scheint es ihn jedoch nicht. Schnell ist er nur noch darauf fixiert, dass sein neues Herrchen ihn mag. Obwohl sich der Romanbeginn auf Spiders Gefühle fokussiert, wurde hier dann doch eine sehr menschliche Sichtweise auf die Adoption eines Hundes gelegt.

Im Verlauf der Handlung trifft Spider auf einige Hunde, die jeweils ein anderes Verhältnis zwischen Mensch und Hund repräsentieren. So beneidet er einen ehemaligen Polizeihund und einen Windhund, der früher Rennen lief, für ihre Aufgaben. Im Vergleich kommt Spider sein Leben als Haushund sinnlos vor. Später trifft er auf den offenbar aussortierten Pitbull Buster. Buster erinnert sich mit Stolz daran, in Hundekämpfen gegen andere Hunde angetreten zu sein und sucht einen Weg zurück in dieses Leben. Dass ihr Kurzzeitgedächtnis kaum noch vorhanden ist (Gespräche mit Buster erinnern stark an Dorie aus Findet Nemo), ist der einzige Hinweis darauf, dass mit ihm etwas nicht stimmen könnte. Ich habe das Gefühl, dass durch den Auftritt dieser Hunde eine Kiste aufgemacht wird, deren Potenzial dann nicht ausgeschöpftwird. Die Glorifizierung der ruhmreichen Vergangenheit dieser Hunde entweder durch ihre eigene verquere Erinnerung oder durch Spiders Naivität nimmt deutlich mehr Raum ein als angemessen. Daneben geht die Schilderung ihres leidlichen Daseins unter den Folgen eines solchen Lebens beinahe völlig unter.

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Etwas schockiert hat mich der Tod von Spiders Freundin Jessie. Die Füchsin nimmt sich seiner in der Wildnis an. Sie rettet ihn vor dem Verhungern und hilft ihm, zu Tom zurückzufinden. Unterwegs geraten die beiden in eine Fuchsjagd und Jessie wird auf brutale Weise von einer Horde Beagles zerfetzt. Die ausführliche Beschreibung der Hetzjagd auf Jessie und schließlich ihr Tod empfand ich als unnötig grausam. Vor allem erkenne ich den Sinn dieser Szene nicht. Es ist schwer, sie tatsächlich als direkte Kritik an der Fuchsjagd zu lesen. Denn ausgerechnet hier verflüchtigen sich die Menschen zu nebulösen Figuren ganz am Rande der Handlung. Jessie stirbt nicht durch einen Schuss, sondern Jagd und Tod scheinen allein die Beagle zu verantworten. Die allerdings handeln völlig ohne Sinn und Verstand.

 

Verlust

Toms Verlust seiner Mutter zieht sich durch die gesamte Romanhandlung. Schnell wird klar, dass sie noch lebt – sie ruft täglich an, doch Tom verweigert den Kontakt. Offensichtlich leidet er darunter, seine Mutter nicht um sich zu haben. Dennoch scheint er sie für die Situation verantwortlich zu machen und nicht fähig zu sein, ihr zu vergeben. Leider werden die genaueren Umstände nie wirklich klar: Warum hat sie die Familie verlassen? Wo lebt sie jetzt? Wie lange ist das her? Ist sie heimlich abgehauen oder ganz offiziell ausgezogen? Man könnte natürlich argumentieren, dass die genauen Umstände nicht zur Handlung des Romans beitragen und daher uninteressant seien. Doch die Situation wird so oft auf die immer gleiche Weise aufgegriffen. Anscheinend soll der Leser noch mehr Mitleid mit Tom haben angesichts der zerrütteten Familienverhältnisse. Allerdings würde es sehr viel mehr zum Verständnis von Toms Charakter und Situation beitragen, wenn man verstehen würde, was tatsächlich passiert ist. So wirkt es leider nur wie der halbherzige Versuch, die Lebensumstände des Jungen noch komplizierter zu machen.

Zentral für die Handlung ist natürlich der gegenseitige Verlust, als Spider abhaut. Das wurde stark umgesetzt. Beide ergreifen verzweifelte Maßnahmen, um wieder zusammenzufinden. Vor allem Toms Verzweiflung darüber, seinen vierbeinigen Freund verloren zu haben, war förmlich greifbar.

 

Mobbing

Mobbing ist ein sehr zentrales Thema in Spider. Tom leidet ganz offensichtlich unter seinen Mitschülern. Er hat keine Freunde und ein Mitschüler, Robert Tayler, hat es ganz besonders auf ihn abgesehen. Robert lauert ihm auf, macht sich über Toms Aussehen lustig und schreckt auch vor Gewalt nicht zurück. Die Lehrer verkennen die Situation und Toms Vater schenkt ihm nicht genug Aufmerksamkeit, um zu sehen, was im Leben seines Sohnes vor sich geht. Dabei ist die Umsetzung der Thematik weder neu, noch besonders innovativ umgesetzt. Ein einsames Kind, das in seinem Haustier seinen einzigen Trost findet – diese Geschichte wurde schon oft genug erzählt. Doch auch so ist die Situation leicht zu durchschauen und die Rollenverteilung klar: Tom weckt Sympathie und Mitgefühl, Robert Taylor ist der miese Gegenspieler und der Vater sammelt Minuspunkte für seine mangelnde Aufmerksamkeit.

Aber auch Spider ist mehr oder weniger Opfer von Mobbing, aber auf ganz andere Art. Von gleich zwei anderen Tieren wird er psychisch manipuliert und da wird es irgendwie schwammig. Zum einen ist da die Spinne Faden, die systematisch Spiders Selbstwertgefühl untergräbt. Immer wieder gibt sie ihm zu verstehen, dass sein vorstehender Zahn ein unverzeihlicher Makel sei, dass Toms Vater eigentlich eine Katze hatte kaufen wollen und dass Spider ein schlechter Hund sei. Problematisch ist hier, dass sie all ihre Aussagen als gut gemeintes Zureden eines Freundes verpackt und Spider darauf hereinfällt. Zum anderen ist da Mondschein, eine Katze, die sich mit Spider zu ihrer Belustigung die Zeit vertreibt.

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Auch Mondschein gibt sich als Spiders Freundin aus. Sie lockt ihn mit Versprechungen über ein Leben in Freiheit und füllt Spiders Kopf mit Sorgen und Ängsten bezüglich Tom, dass der junge Hund in völliger Verzweiflung ausreißt. Gegenüber anderen Katzen gibt sie zu, dass Spider nicht der erste Hund ist, den sie aus Spaß ausgetrickst hat. Sobald sie ihr Ziel erreicht hat, verliert sie ihr Interesse an ihm und lässt ihn in freier Wildbahn beinahe verhungern.

 

Handlungen ohne Konsequenzen

Am meisten habe ich mich beim Lesen daran gestört, wie viele der Fehler, die die Figuren begehen scheinbar ohne längerfristige Konsequenzen bleiben. Toms Vater scheint ohnehin in finanziellen Problemen zu stecken. Doch als Spider dann auch noch einen Verkehrsunfall mit erheblichem Schaden verursacht, bringt das allerhand Probleme mit sich. Das sorgt zwar erstmal für Ärger, spielt dann aber sehr schnell keine Rolle mehr. Spätestens am Ende des Romans scheinen dann sämtliche Geldsorgen ihre Relevanz verloren zu haben. Sicher steckt da ein schöner Gedanke darin, dass Toms Vater gelernt hat, nicht nur über Geld nachzudenken. Allerdings wirkte es auf mich eher so, als wäre das Thema schlichtweg fallengelassen worden.

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Am Ende ist alles Friede Freude Eierkuchen

Am Ende des Romans lösen sich so einige Probleme, oder viel mehr Konflikte, in Luft auf. Spider, Mondschein und Buster retten sich mit anderen Hunden und Katzen aus einer Tierfutterfabrik. Tom, Robert Taylor und ein anderer Junge sterben beinahe, als ein baufälliges Gebäude über ihnen zusammenstürzt. Mir leuchtet ein, dass derart dramatische Erlebnisse einiges in eine neue Perspektive rücken können. Dennoch war mir die allseitige Versöhnung, die dadurch ausgelöst wird, zu plump.

Als Spider in der Tierfutterfabrik auf Mondschein trifft, ist er überglücklich, seine alte Freundin wiedergefunden zu haben. Obwohl die Füchsin Jessie ihm gut zugeredet hatte, hat der junge Hund nie erkannt, wie Mondschein ihn manipuliert hat. Diese fehlende Einsicht ist bedenklich. Positiv sollte ich betonen, dass Mondschein eindeutig Reue zeigt und bemüht ist, ihr vergangenes Verhalten wiedergutzumachen. In dem kleinen dreier Gespann von Spider, Mondschein und Buster nimmt sie sich zurück und Spider entwickelt wahre Leithundqualitäten. Die Freundschaft ist also eindeutig nicht mehr toxisch, wie sie es zu Beginn des Romans war.

Tom erkennt im Gegegensatz zu seinem vierbeinigen Freund, wer ihm Unrecht getan hat. Doch auch er ist am Ende großzügig gestimmt in seiner Vergebung. Zusammen beinahe zu sterben kann sicher das Verhältnis von Mobbingopfer und Peiniger verändern. Aber eine kurze Entschuldigung wird nicht einmal Ansatzweise dem Ausmaß dessen gerecht, wie Robert Tom behandelt hat. Er hat ihm erzählt, sein Hund wäre tot. Er hat ihn mit einer Eisenstange bewaffnet angegriffen. Das sind schwerlich Schulhofhänseleien. In meinen Augen ist es falsch, dass hier suggeriert wird, dass sich ein solches Verhalten mit nur einem Satz unter den Teppich kehren lässt.

 

Wie reflektiert lesen junge Leser?

Witziger Weise musste ich erst vor kurzem für ein Seminar eine kurze schriftliche Antwort abliefern zu der Frage, ob Kinderliteratur Werte vermitteln sollte. Wie so häufig im Studium habe ich mir meine Gedanken gemacht zu dem Thema und sie ausformuliert. Doch danach habe ich nicht weiter darüber nachgedacht. Bis ich angefangen habe, Spider zu lesen. Wie bereits kurz erwähnt, hatte ich beim Lesen beinahe durchweg ein ungutes Gefühl. Nicht nur, weil ich mich grundsätzlich an den oben beschriebenen Punkten störte. Sondern weil ich stets im Hinterkopf hatte, dass dieses Buch für junge Leser gedacht ist. Vor dem Lesen hatte ich Spider als Kinder-Vorlesebuch abgestempelt. Inzwischen habe ich auf der Verlagswebseite nochmal nachgesehen und festgestellt, dass es für Kinder ab elf Jahren gedacht ist. Das rückt die Perspektive zumindest ein Stück weit zurecht.

Andererseits heißt das aber auch, dass die angesprochenen Leser bereits in dem Alter sind, in dem sie für sich alleine lesen. Gleichzeitig ist es meiner Erfahrung nach – das kann natürlich variieren – das Alter, in dem Mobbing beginnt, wirklich relevant zu werden. Meiner Ansicht nach sollte eine Geschichte, die sich gezielt an diese Altersgruppe richtet, das Thema entsprechend verantwortungsbewusst behandeln. Es muss nicht immer gleich der moralische Zeigefinger sein, um eine Botschaft zu senden. Aber es sollten die richtigen Werte vermittelt werden. Die Art und Weise, wie hier Mobbing und manipulatives Verhalten bagatellisiert werden, halte ich für unangebracht.

Abschließende Bemerkung: Ich kann mich leider nicht erinnern, wie ich als Elfjährige sensible Themen beim Lesen wahrgenommen habe. Mir fehlt außerdem die aktuelle Erfahrung mit Kindern in dem Alter, um beurteilen zu können, wie reflektiert sie in diesem Alter bereits lesen. Vielleicht traue ich ihnen zu wenig zu, das kann sein.

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