
Anne Frank | In ihren eigenen Worten: Das Tagebuch
Es ist vermutlich eines der berühmtesten Tagebücher der Welt. Ein Werk der Weltliteratur. Ein Zeitzeugnis. Heute erfährt das Tagebuch Anne Franks einige große Bezeichnungen. Dabei begann es wie so viele andere Tagebücher auch: Als Geburtstagsgeschenk eines dreizehnjährigen Mädchens. Heute vor 77 Jahren schrieb Anne ihren ersten Eintrag in das rot-weiß karierte Büchlein. Ich möchte dieses Datum zum Anlass nehmen, mich heute im Rahmen meiner Themenwoche rund um Anne Frank mit ihrem Tagebuch auseinanderzusetzen.
Weitere Beiträge der Themenwoche
· Auftakt ·
· Anne in der Erinnerung: Das Anne Frank Haus in Amsterdam ·
· Anne im Film: Das Tagebuch der Anne Frank (2016) ·
Anne schreibt schon zu Beginn ihres Tagebuchs, dass sie in ihrer Familie und unter all ihren Freundinnen keine Person habe, der sie sich wirklich anvertrauen könne. So erhofft sie sich, in ihrem Tagebuch diese fehlende Stütze zu finden. Schon bald taucht erstmals ‚Kitty‘ als Annes Adressatin eines Tagebucheintrags auf. Kitty ist eine Fantasiefreundin Annes, an die sie irgendwann die meisten ihrer Tagebucheinträge in Briefform richtet. So ist das Tagebuch für Anne in erster Linie stets eine Freundin und Stütze.
Es ist für jemanden wie mich ein eigenartiges Gefühl, Tagebuch zu schreiben. Nicht nur, dass ich noch nie geschrieben habe, sondern ich denke auch, dass sich später keiner, weder ich noch ein anderer, für die Herzensergüsse eines dreizehnjährigen Schulmädchens interessieren wird.
(Tagebucheintrag vom 20.06.1942. In: Anne Frank: Tagebuch. Fischer Taschenbuch Verlag 2009, S. 18)
Im März 1944 verkündet ein niederländischer Minister im Radio, dass man nach dem Krieg Tagebücher, Briefe etc. aus der Zeit der deutschen Besatzung veröffentlichen wolle. Anne, die inzwischen schriftstellerische Ambitionen hegt, beginnt daraufhin, ihr Tagebuch zu überarbeiten. Sie ergänzt und streicht Passagen oder schreibt sie um. So liegen heute zwei Fassungen vor, die jedoch beide von Anne selbst stammen.
Das Hinterhaus und seine Bewohner
Keinen Monat nach Annes dreizehntem Geburtstag taucht die Familie in ihrem Versteck in der Prinsengracht 263 unter. Neben der vierköpfigen Familie Frank lebt außerdem das Ehepaar van Daan (eigentlich van Pels) mit ihrem Sohn Peter, und Herr Dussel (eigentlich Fritz Pfeffer) im Hinterhaus. Der Inhalt des Tagebuchs dreht sich beinahe ausschließlich um das Hinterhaus, seine Bewohner und das Wenige, das von der Außenwelt zu ihnen durchdringt. Entsprechend trägt die niederländische Erstausgabe von Annes Tagebuch den Titel Het Achterhuis (dt.: Das Hinterhaus). Anne selbst überlegt sich, nach dem Krieg eine Sammlung mit Erzählungen über den Alltag im Hinterhaus zu veröffentlichen. Die ausgewählten Texte dafür beschreibt sie als ‚humorvoll‘.

Wenn man die Tragik der Situation für einen Moment vergisst, liegt tatsächlich ein gewisser Humor in den Alltagsszenen. Sicher geht einiges davon auf das Konto von Annes positivem Wesen und ihrer gewitzten Ausdrucksweise. Es klingt wie ein Sozialexperiment: Acht Menschen leben für zwei Jahre in einem Hinterhaus. Sie teilen sich 4 enge Räume, einen Dachboden und ein Bad. Niemals verlässt einer von ihnen das Haus. Strenge Regeln, die es verbieten, Fenster zu öffnen oder zu bestimmten Zeiten die Toilette zu benutzen, erschweren zusätzlich das Zusammenleben. Konflikte sind da ebenso vorprogrammiert wie skurrile Situationen.
Anne
Es sind diese ganz alltäglichen Streitereien, Situationen und Gefühle, die Anne trotz ihres außergewöhnlich tragischen Schicksals so nahbar machen. Wenn sie beispielsweise schreibt, wie missverstanden und ungerecht behandelt sie sich fühlt. Wie nicht ganz ungewöhnlich für eine Dreizehnjährige gerät Anne deshalb häufig mit ihrer Mutter aneinander. Aber auch ihre erste Liebe und ihre Träume und Hoffnungen für ihr Erwachsenenleben teilt Anne mit ihrem Tagebuch.
Gleichzeitig war und bin ich voller Faszination für Anne als Person. Sie zeigt in ihren Einträgen eine bewundernswerte Selbsteinschätzung, die nicht nur für ihr Alter fortgeschritten ist. Es sind ihre intimsten Gedanken, natürlich gibt es genug Beiträge voller Trotz und Selbstgerechtigkeit. Doch Anne versäumt es fast nie, ein solches Verhalten mit einem gesunden Maß an Selbstkritik und Selbstakzeptanz zu reflektieren.
Ich kann mir nicht ausmalen, was es bedeutet, zwei so prägende Jahre seiner Jugend auf engstem Raum mit immer den gleichen Personen zu verbringen. Noch dazu die ständige Angst. Auch Anne zeigt immer wieder Momente der Verzweiflung. Und doch ist ihr Tagebuch so voller Hoffnung. Hoffnung auf ein Ende des Kriegs, auf ein Leben danach. Hoffnung in die Menschen und auf eine bessere Welt.
Zeitzeugnis
Einer der Begriffe, der häufig im Zusammenhang mit Annes Franks Tagebuch fällt, ist ‚Zeitzeugnis‘. Egal, wie viele Fakten wir über den Holocaust lernen, wir werden nie wirklich nachvollziehen können, was es hieß, zu dieser Zeit Jude gewesen zu sein. Wir werden nie die verschiedenen Facetten des Schmerzes und der Angst in ihrem Ausmaß verstehen. Das Einzige, das wir tun können, ist Texte wie Annes Tagebuch lesen, aus ihnen lernen, und gegen Antisemitismus, Rassismus und Diskriminierung jeglicher Art eintreten. Anne hat ihrer Nachwelt ein unglaublich großes Geschenk hinterlassen. Es ist eine bittere Erfüllung ihres Wunsches nach Bedeutung in der Welt:
O ja, ich will nicht umsonst gelebt haben wie die meisten Menschen. Ich will den Menschen, die um mich herum leben und mich doch nicht kennen, Freude und Nutzen bringen. Ich will fortleben, auch nach meinem Tod.
(Tagebucheintrag vom 05.04.1944. In: Anne Frank: Tagebuch. Fischer Taschenbuch Verlag 2009, S. 238)
In Annes Tagebuch sind die Judenverfolgung und der Krieg wie ein ständiges Hintergrundrauschen. Nur vereinzelt geht Anne konkret auf neue Erlässe oder politische Entwicklungen ein. Manchmal muss man etwas zwischen den Zeilen lesen, um die gesamte Tragweite zu begreifen, in der beinahe jeder Aspekt im Leben der Hinterhausbewohner davon beherrscht wird: Das Risiko jedes weiteren Mitwissers. Die ständige Angst, entdeckt zu werden, die den gesamten Tagesablauf bestimmt. Und die traurige Ironie, wenn das Einrücken der Alliierten Freiheit verspricht und gleichzeitig ihre Bomben Todesangst verbreiten.
Das Tagebuch heute
Jeder sollte Anne Franks Tagebuch lesen. Als Zeitzeugnis ist es ein Mahnmal; die Worte eines jungen Mädchens, die uns an einen der dunkelsten Punkte der menschlichen Geschichte erinnern. Gleichzeitig lässt es uns an den innersten Gedanken eines einfachen Mädchens namens Anne teilhaben, deren Stärke und Hoffnung ein Vorbild für jeden in jeder Lebenssituation sein können.
TITEL Tagebuch
AUTORIN Anne Frank
ÜBERSETZERIN Mirjam Pressler
VERLAG Fischer Taschenbuch
ERSCHEINUNGSJAHR 2009
ERSTVERÖFFENTLICHUNG 1988
SEITENZAHL 315
Quelle Coverbild: Webseite des Verlags (Anzeige)

